

Lampenfieber? - Ja, das habe er immer noch. »Wenn das nicht mehr wäre, würde ich nicht mehr auf die Bühne gehen«, sagt Triers bekanntester Tenor Thomas Kiessling (62). Diese Aufregung sei keine Angst, sondern gesunder Respekt vor den Auftritten, der ihn von der Konzentration her genau dorthin bringe, wo er sein möchte.
Der Großvater Dirigent, der Vater Organist, der Bruder Rockmusiker - keine Überraschung, dass der jüngste Sohn seine Fußstapfen in die gleiche Richtung setzt. Und er ist talentiert. Mit fünf Jahren tritt er in den Kinderchor der St. Matthias-Abtei ein, wechselt als Jugendlicher zum Theater Trier (»Ich bin dort groß geworden«) und wird mit 14 von seinem Gesangslehrer als Talent entdeckt, der ihm den Weg zur Aufnahmeprüfung ebnet. Fleiß und Ehrgeiz muss er mitbringen, denn gelernt wird jedes Wochenende im Einzelunterricht in Frankfurt. Als sein Professor einen Tag vor der Aufnahmeprüfung erkrankt, springt er als 1. Geharnischter der Zauberflöte für ihn ein.
Weil er durch das vorangegangene Privatstudium weit voraus ist, wird er mit 18 Jahren der jüngste Lehrbeauftragte an der Hochschule für Ballett, Schauspiel und Gesang.
Dass seine Stimme einmalig ist, weiß er, er kann sich und seine Fähigkeiten sehr gut einschätzen, kennt aber auch genau seine Grenzen. Diese will er überwinden, sein Repertoire erweitern, und so vollzieht den Wechsel von der ernsten in die Unterhaltungsmusik.
Mit den »Drei jungen Tenören«, die es 1998 in den Vorentscheid zum Grand Prix, heute Eurovison Song Contest, geschafft haben, wird er bekannt. Nach fünf prägenden, aber »wunderschönen« Jahren verläßt er die Gruppe und vollzieht auch als Solo-Sänger den Wechsel zur Unterhaltungsmusik. Dieser Wechsel sei ein absoluter, so Kiessling, eröffne aber mit dem zusätzlichen Repertoire von Pop und Schlager auch neue Chancen.
»Verschiedene Musikrichtungen haben andere Stimmen«, sagt er und stimmt Sinatras »My Way« an, einen der größten amerikanischen Schlager aller Zeiten, der unser Gespräch dann auch auf ein anderes Thema lenkt: den jahrelangen Mißbrauch durch einen Benediktinermönch der Trierer Abtei Sankt Matthias.
Zwei Jahrzehnte braucht Kiessling, um sich der Vergangenheit zu stellen. Er verlangt Aufarbeitetung und Gerechtigkeit, wird zum Sprecher von Missbit, den betroffenen Missbrauchsopfern im Bistum Trier. Als Thomas seinem Vater von den Vergewaltigungen erzählt, erhält er zur Antwort eine Ohrfeige. »Es war damals eine Zeit, in der man Lehrer, Arzt und Pastor absolut vertraut hat«, sagt Kiessling.
Das Interview: Die Stimme, die das Schweigen bricht
Herr Kiessling, Ihre Stimme hat Sie über die Grenzen Triers hinaus bekannt gemacht. Wie begann Ihre Reise in die Welt der Musik?
Thomas Kiessling: Es begann mit meiner Kindheit. Ich wuchs in einer musikalischen Familie auf, mein Vater spielte Klavier, meine Mutter liebte Opern. Als Junge war ich fasziniert von den Emotionen, die Musik auslösen kann. Der Kinderchor in der Trierer Benediktinerabtei war mein Einstieg. Dort lernte ich, wie kraftvoll und intim Musik sein kann – auch wenn dieser Ort für mich später zum Schauplatz einer tiefen Erschütterung wurde.
Sie sprechen den Missbrauch an, den Sie als Kind dort erlebt haben. Wie hat Sie das geprägt?
Das war ein Bruch in meinem Leben, den ich lange nicht begreifen konnte. Zwei Jahrzehnte habe ich darüber geschwiegen. Doch irgendwann kam der Punkt, an dem ich begriff, dass das Schweigen mich lähmt. Musik wurde zu meinem Rettungsanker, zu meiner Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, für die mir lange die Worte fehlten.
Wie finden Sie die Kraft, nach solchen Erlebnissen auf der Bühne so viel Leidenschaft zu zeigen?
Die Bühne ist mein Zufluchtsort. Wenn ich singe, bin ich ganz bei mir. Ich möchte Menschen berühren, sie mitnehmen auf eine Reise – sei es durch ein leidenschaftliches »Nessun Dorma« oder durch moderne Pop-Klassiker. Für mich ist jede Aufführung ein Gespräch mit dem Publikum.
Sie treten auch außerhalb klassischer Konzerte auf, etwa bei Benefizveranstaltungen für »nestwärme«. Warum ist Ihnen das wichtig?
Weil Musik mehr ist als nur Unterhaltung. Sie kann verbinden, heilen und Hoffnung schenken. Gerade die Benefizkonzerte für »nestwärme« liegen mir am Herzen, weil sie den Fokus auf andere Menschen lenken. Ich habe Glück gehabt, trotz allem. Das möchte ich weitergeben.
Ihr Repertoire ist breit gefächert – von Oper bis Musical. Wie wählen Sie Ihre Stücke aus?
Das ist immer eine Frage des Gefühls. Ich will keine technische Perfektion, sondern Geschichten erzählen. Es kann eine Arie sein, die mich durch ihre Tiefe anspricht, oder ein moderner Song, der ein Lächeln aufs Gesicht zaubert.
Was bedeutet Heimat für Sie – Trier als Stadt, in der Sie aufgewachsen sind?
Trier ist meine Basis, ein Ort voller Erinnerungen – gute und schlechte. Aber ich liebe diese Stadt, ihre Geschichte, ihre Menschen. Hier fühle ich mich verwurzelt, auch wenn ich die Welt bereise.
Abschließend: Was möchten Sie jungen Künstlern mit auf den Weg geben?
Sucht nach eurer eigenen Stimme – nicht nur im wörtlichen Sinne. Die Welt braucht nicht die nächste Kopie eines großen Sängers. Sie braucht euch und eure Geschichten.
Das Interview führte Chefredakteurin Edith Billigmann