Als "Engel von Auschwitz" ging sie in die Geschichte des gleichnamigen Konzentrationslagers ein. Als politische Gefangene erlebte und überlebte sie dort vollständige Entmenschlichung und Auslöschung individuellen Lebens. Und doch rettete sie, selbst stets am Rande des Zusammenbruchs, vielen Todgeweihten das Leben. In einem neuen Teil unserer Reihe "Es war einmal…" blicken wir auf eine mutige Frau, die sich in der Unzeit ihre Menschlichkeit bewahrte.
Aurelia (Orli) Reichert-Wald (geborene Torgau) wurde am 1. Juli 1914, ein Mittwoch, als sechstes Kind in Bourell/Frankreich geboren. Ihr Vater, August Torgau, von Beruf Maschinist, stammte aus Trier, die Mutter, Maria, war französische Staatsangehörige. Die Familie war zu dieser Zeit bereits stark in der kommunistischen Bewegung engagiert: Als Mitbegründer der Trierer Ortsgruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) waren sowohl der Vater als auch die beiden älteren Brüder Fritz und Willi in diesem politischen Milieu verstrickt.
Trierer Jahre
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wird die Familie von den Franzosen interniert und 1916 nach Trier abgeschoben. Ihr Vater verblieb zunächst in französischer Internierung. Nach ihrem Schulabschluss absolvierte Orli in Trier eine Ausbildung zur Verkäuferin und wurde in den 1920er Jahren Mitglied im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD). Nach Hitlers Machtergreifung engagierte sich Orli im kommunistischen Widerstand, wo sie unter anderem als Botin ins benachbarte Luxemburg geschickt wurde. Bereits 1934 wurde sie ein erstes Mal von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet, jedoch aus Mangel an Beweisen kurze Zeit später freigelassen. 1935 heiratete sie ihren ersten Mann, Fritz Reichert. Die Ehe wird kaum ein Jahr später geschieden: Reichert, ehemaliger KJVD-Genosse und mittlerweile in die SA eingetreten, trennte sich 1936 vermutlich nicht zuletzt auch aufgrund seiner neuen politischen Gesinnung von ihr.
Haft
Im Zuge einer im Jahr 1936 in Trier gegen die Mitglieder des KJVD gerichteten Verhaftungswelle stellte sich Aurelia der Gestapo: Deren Mittelsmänner drohten ihr mit der Festsetzung ihrer Eltern, falls sie nicht nach Trier zurückkehrt. In den Verhören ging die Gestapo äußerst brutal vor. Mit Ohrfeigen, Schlägen, stundenlangem Stehen und Schlafentzug versuchte man sie mürbe zu machen. Am 23. Juni 1936 wurde sie sodann in das Gefängnis in der Windstraße verbracht, am 21. Dezember 1936 wegen "Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens" zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Diese verbrachte sie vollständig in der Frauenzuchtanstalt Ziegenhain bei Kassel; Gnadengesuche, obgleich von der Gefängnisleitung befürwortet, werden von der Gestapo abgelehnt. Als sie nur wenige Tage vor Weihnachten 1940 entlassen werden sollte, wurde sie von der Gestapo in das KZ Ravensbrück überstellt. In dem Prozess gegen den luxemburgischen KP-Führer Zenon Bernard wurde sie als Kronzeugin herangezogen und ihr - bei entsprechender Aussage - Straffreiheit versprochen. Aurelia widerstand dem "Angebot" und versuchte, Bernard zu entlasten. Diesen Mangel an Kooperation bestrafte die Gestapo mit der Überstellung in das Konzentrationslager Auschwitz im März 1942.
Auschwitz
Unter der Häftlingsnummer 502 wurde sie dort Lagerälteste im Krankenrevier des Frauenlagers in Auschwitz-Birkenau, wo sie vor allem das unbarmherzige Wirken der KZ-Ärzte erleben musste. Sie erlebte Ärzte, die Säuglinge mit Giftspritzen töteten, Menschenversuche durchführten oder Kranke für den Tod in der Gaskammer selektierten. In ihrer Funktion im Krankenblock und mittlerweile auch als Mitglied der deutschen Widerstandsgruppe im Lager gelang es ihr, jüdische und andere Häftlinge vor dem Tod zu bewahren, was ihr den Ruf als "Engel von Auschwitz" einbrachte. Sie selbst erkrankte während ihrer Internierung an Tuberkulose, Fleckfieber und Ruhr, verfiel in eine schwere Depression, die in einem Suizidversuch mündete. Von Krankheit geschwächt wurde sie 1945 zusammen mit anderen Mithäftlingen in ein Nebenlager des KZ Ravensbrück verlegt, von wo sie in den letzten Apriltagen entkommen konnte. Doch noch endete ihre Tortur nicht: Von russischen Soldaten in ihrem Waldversteck aufgestöbert, wurde auch sie, durch hohes Fieber völlig geschwächt, von ihnen vergewaltigt.
Nach dem Krieg
Orli entkommt einem noch schlimmeren Schicksal und es gelang ihr, sich nach Berlin abzusetzen. Immernoch vom Kommunismus überzeugt, trat sie dort der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sowie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) bei. Doch ihre Vergangenheit konnte sie nicht abschütteln: Erneut brach bei der körperlich geschwächten Frau Tuberkulose aus. Im Sanatorium lernte sie ihren zweiten Ehemann Eduard Wald kennen, mit dem sie 1947 ihre zweite Ehe schloss. Den Namen Reichert konnte sie aufgrund ihrer Haft nicht ablegen, sodass die als Torgau geborene Aurelia nunmehr den doppelten Nachnamen Reichert-Wald führen muss. 1948 brachen sie und ihr Mann mit der SED; beide verließen die DDR. In der folgenden Zeit wollte sich ihr Gesundheitszustand nicht stabilisieren.
Schwere Krankheit und Tod
Immer wieder wurde sie von starken Depressionen und Angstzuständen heimgesucht, die sie mit Medikamenten unterdrückte: die einst so selbstbestimmt lebende Frau ist zu einem Pflegefall geworden. Einen erheblichen Zusammenbruch erlitt sie mit dem Beginn des Eichmann-Prozesses 1961 in Israel, der ihre vergangenen Erlebnisse wieder lebendig werden lässt. Erneut in eine Nervenklinik eingeliefert, kam es zu Bewusstseinsstörungen. Aurelia glaubte sich noch immer in Auschwitz, in ihrer Vorstellung herschte immer noch Krieg und sie klagte sich an, nicht genug für ihre Mithäftlinge getan zu haben. Für den 1. Januar 1962 verzeichnet ihre Krankenakte eine erhebliche Unruhe, die nur mit einer hohen Medikamentendosis in den Griff zu bekommen war. Noch am selben Tag starb Aurelia Reichert-Wald in Sehnde-Ilten an den folgen jahrelanger körperlicher und seelischer Belastungen. Das Unrecht hatte sie geprägt. "Nachts standen die Toten von Auschwitz wieder auf", berichtet ihr Ehemann Eduard Wald.