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Interview: Hartmut August
Warum wendet sich Special Olympics Deutschland jetzt an die Öffentlichkeit?
Christiane Krajewski: Seit mehr als 30 Jahren schaffen wir für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung Zugang zu Sport und Gesundheitsversorgung und initiieren Modellprojekte in den Bereichen Bildung, Kultur und Arbeit. Wir haben viel erreicht. Aber, es treiben nur acht Prozent von ihnen regelmäßig Sport. Der Fortschritt kommt nicht im Schneckentempo, hat aber auch nicht die Geschwindigkeit eines Rennbootes. Es sind nach wie vor nicht die Rahmenbedingungen gegeben, die eine vollumfängliche Teilhabe ermöglichen. Deshalb wenden wir uns an die Öffentlichkeit und an diejenigen, die den neuen
Bundestag und die neue Bundesregierung bilden werden.
Welche Schwerpunkte setzen Sie bei Ihren politischen Forderungen?
Christiane Krajewski: Special Olympics Deutschland fordert, dass bei relevanten Gesetzesvorhaben – ich nenne beispielhaft die Weiterentwicklung des Bundesteilhabegesetzes in den Bereichen soziale und berufliche Teilhabe, ein mögliches zukünftiges Sportfördergesetz sowie die Ausgestaltung eines inklusiven Kinder- und Jugendgesetzes – die Belange von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mitgedacht und mitverhandelt werden.
SOD fordert, Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in alle relevante Entscheidungsprozesse einzubinden. Sie sollen die Möglichkeit haben, sich an Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen. Wie kann das geschehen?
Christiane Krajewski: Unsere Sportlerinnen und Sportler sind politisch interessiert. Viele informieren sich mit ihrem Smartphone auf Social Media über Dinge, die sie betreffen. Sie sind Expertinnen und Experten in eigener Sache. Deshalb sollten sie in Gesetzgebungsverfahren eingebunden werden. SOD hat inzwischen in allen Bundesländern Athletenräte, die aktiv und erfolgreich an der Entwicklung unserer Organisation mitwirken. Diese Menschen und andere müssen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene bei Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt werden.
Mitunter fällt es den Menschen schwer, die eigenen Bedürfnisse auszudrücken. Welche Möglichkeiten gibt es, sprachliche Barrieren zu überwinden?
Christiane Krajewski: Leider wird die Leichte Sprache in unserem Land noch zu wenig verwendet. Oftmals werden Diskussionen schnell und hitzig geführt, da fällt es unseren Sportlerinnen und Sportlern schwer mitzukommen. Deshalb brauchen wir mehr Leichte Sprache und eine angenehme Atmosphäre in Debatten, damit sie sich beteiligen können. Wir haben auf kommunaler Ebene sehr erfolgreich Teilhabe-Beraterinnen und -Berater ausgebildet, die die Interessen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung vertreten. Die können helfen, sprachliche Barrieren zu überwinden. Und die Gesellschaft profitiert von einem respektvollen Umgang. Etwas was uns zurzeit leider abhanden kommt. Wir alle können viel von unseren Athletinnen und Athleten lernen.
Welche Rolle spielt der Sport im Leben von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung?
Christiane Krajewski: Der Sport spielt eine zentrale Rolle. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung fühlen sich in ihrem Lebensalltag oft nicht einbezogen. Das macht sie traurig und hindert sie, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Der Sport schafft Erfolg. Sie erleben, dass sie etwas für sich oder ihr Team leisten können. Auf diese Art und Weise werden sie in der Öffentlichkeit positiv wahrgenommen. Das macht sie glücklich. Es ist gut, wenn in Zukunft die Leistungen der Eingliederungshilfe unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zusammengeführt werden, denn die Grundlage für ein aktives sportliches Leben von Menschen ohne und mit Beeinträchtigung wird in der Kindheit und Jugend gelegt. Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche von Beginn an inklusiv aufwachsen. Die richtige Ausgestaltung des Gesetzes kann dafür wichtige Voraussetzungen schaffen. In diesem Zusammenhang fordern wir auch mehr Forschung über das Ausmaß der Beteiligung von Schülerinnen und Schülern mit geistiger Beeinträchtigung an Bewegung und Sport, sei es in inklusiven schulischen Angeboten oder an Förderschulen. Dass Schülerinnen und Schüler mit geistigen Beeinträchtigungen nicht in empirische Studien mit eingebunden sind, ist nicht zu akzeptieren.
Warum tun sich Sport-Vereine schwer, inklusive Angebote zu schaffen?
Christiane Krajewski: Mein Eindruck ist, dass in den Vereinen häufig der gute Wille vorhanden ist. Sie schaffen es oft nur mit viel ehrenamtlichem Engagement und begrenzten Finanzen, ihr bisheriges Programm zu erfüllen. Und dann kommen wir und wünschen uns mehr Inklusion. Die Vereine schaffen das nicht allein. Sie brauchen eine besondere Förderung für inklusive Angebote. Ganz sicher gehören finanzielle Anreize dazu. Dazu ist ein Umdenken auf kommunaler, Landes- und Bundesebene nötig. Und wir brauchen Begegnungen, damit sich eine Offenheit entwickeln kann.
Wenn es inklusive Angebote in Vereinen gibt, dann ist oft noch die Erreichbarkeit für Sportlerinnen und Sportler eine Herausforderung. Wie kann das geändert werden?
Christiane Krajewski: Unsere Sportlerinnen und Sportler sind in engagierten Familien sowie vor allem in Werkstätten, Wohnheimen und Förderschulen zu finden. Es kommt darauf an, dass die Verantwortlichen dort die Wichtigkeit von Sport für die Menschen erkennen und praktisch umsetzen. Dann lassen sich Transport-Möglichkeiten mit den Vereinen abstimmen. Das bekommt man auch finanziell gewuppt. Denn nach dem Bundesteilhabe-Gesetz steht den Menschen ein persönliches Budget zu, in dem der Sport enthalten ist. Allerdings erwarten wir eine konkrete Benennung des Sports als Leistung.Regelungen, dass Assistenzleistungen primär aus dem privaten Umfeld zu erbringen sind, müssen gestrichen werden.
In Vorbereitung des bundesweiten Host Town Programs anlässlich der Special Olympics World Games 2023 in Berlin sind lokale und regionale Netzwerke entstanden. Was braucht es, um die Strukturen weiterzuentwickeln?
Christiane Krajewski: Diese Netzwerke haben sehr erfolgreich gearbeitet. Sie müssen auch in Zukunft nachhaltig finanziert werden. Wir brauchen sie unbedingt auf kommunaler und regionaler Ebene. Denn sie sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mitgedacht werden. Es gibt kein Patentrezept für die weitere Entwicklung. Ich bin mir aber sicher, die Kommunen und Regionen werden dafür gute eigene Wege finden.
Sportlerinnen und Sportler von SOD treffen im Alltag auf Barrieren. Orientierungs-, Informations- und Bezahlsysteme sind oft nicht ihren Bedürfnissen angepasst. Gibt es gute Beispiele dafür, dass das geändert werden kann?
Christiane Krajewski: Die Special Olympics World Games 2023 in Berlin waren ein erfolgreiches Beispiel dafür. Besonders das Info- und das Orientierungssystem mit vielen Piktogrammen anstelle von Schriftsprache waren sehr gut. Dieses Mitdenken der besonderen Bedürfnisse ist zu wenig Realität. Deshalb wollen wir unsere positiven Erfahrungen von den Weltspielen sehr gern in die Debatten auf verschiedenen Ebenen mit einbringen.
In den Forderungen heißt es, es bedarf eines besonderen Blickwinkels auf die Definition von Spitzensport bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Was bedeutet das?
Christiane Krajewski: Unsere Klassifizierung stellt nicht auf eine Siegerin oder einen Sieger pro Disziplin ab, sondern orientiert sich daran, was jeder leisten kann. Deshalb kann zum Beispiel im 100-Meter-Lauf jemand mit 12 Sekunden oder auch einer Minute Laufzeit Gold gewinnen - je nach Leistungsgruppe. Dieses System bringt besondere Anforderungen mit sich. Des Weiteren unterscheidet sich die Lebenswirklichkeit unserer Athletinnen und Athleten gravierend von anderen Sportlerinnen und Sportlern. Sie brauchen eine andere Art der Unterstützung und Begleitung. Und aufgrund der fehlenden Angebotsvielfalt müssen wir viel in den Aufbau von Strukturen und die Qualifizierung von Trainerinnen und Trainern investieren. Wir stehen nach wie vor am Beginn einer Entwicklung.
Wie viele Trainerinnen und Trainer gibt es im Moment?
Christiane Krajewski: Derzeit haben wir für 24 Sommer-Sportarten sowie 9 Wintersportarten nur acht hauptamtliche Trainerinnen und Trainer. Das reicht nicht aus. Deshalb brauchen wir weiterhin mehr finanzielle Förderung des Spitzensports durch das Bundesinnenministerium. Wir sind der Bundespolitik für die große Unterstützung insbesondere im Zusammenhang mit den Special Olympics Weltspielen Berlin 2023 sehr dankbar. Insbesondere das Bundesinnenministerium und das Arbeits- und Sozialministerium haben uns nachhaltig unterstützt. Doch die Erinnerung an das erfolgreiche Sportgroßereignis verblasst und der Alltag kehrt ein. Darum sind unsere zehn „Politischen Forderungen“ gerade jetzt wichtig, damit Teilhabe gelingen kann.
Hier geht es zu den zehn Forderungen.