Frederik Scholl

»Erinnerung zum Leuchten gebracht«

Euskirchen (PP). Mehr als 30 neu zugewanderte Menschen reinigten kürzlich »Stolpersteine« in Euskirchen. Ziel der Aktion war es ein neues Bewusstsein zu schaffen.

11 Jahre und 345 Tage – so viel Zeit wäre nötig, um jedem Holocaust-Opfer in einer Schweigeminute zu gedenken. Damit sie nicht in Vergessenheit geraten, liegen überall in Deutschland sogenannte »Stolpersteine«.

Sie erinnern an all die unschuldigen Opfer des NS-Regimes vor ihren ehemaligen Wohnsitzen. Zu lesen sind auf den golden schimmernden Steinen ihr Name, der Tag ihrer Geburt, Flucht oder Ermordung. Erfunden hat sie der Künstler Gunter Demnig. In Deutschland gibt es mehr als 90.000 von ihnen.

Damit sie ihren Glanz trotz Straßendreck behalten, müssen sie regelmäßig geputzt werden. Das übernimmt unter anderem das Deutsche Rote Kreuz im Kreis Euskirchen. Wie vor einigen Tagen. Mit Wasser, Putzlappen und Politur ausgestattet zog man in Euskirchen los, mit dabei über 30 neu zugewanderte Menschen.

Diese Kooperation der Integrationsagentur und Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit des DRK Kreisverbandes Euskirchen, des Kommunalen Integrationszentrums Kreis Euskirchen und Vogelsang ip fand aufgrund des bisherigen Erfolgs bereits zum zweiten Mal statt. »Die Wirkung ist durchaus spürbar«, erklärte Thomas Weber vom Team Migration/Integration des DRK. Die Fragen seien oft gleich: »Was, das ist erst 75 Jahre her?« Oder: »Die gibt es hier überall?«

Nach einem gemeinsamen Frühstück im "Café Henry" klärte man zunächst über die grausame Geschichte des NS-Regimes auf. Das übernahmen Wolfram Wißkirchen und sein Kollege Thomas Willems von "Vogelsang ip". "Interessant ist hierbei besonders, wie unterschiedlich die Kenntnisse zur NS-Geschichte in den verschiedenen Kulturen sind", so Weber.
Die Teilnahme war freiwillig, das Interesse rege. So freute sich das Team des Roten Kreuzes über ein volles Haus. Los zog man schließlich in zwei Gruppen, Ziel waren Stolpersteine in der Umgebung des Euskirchener Rotkreuzhauses: der Familien Seligmann, Mainzer, Horn, Liebertz und Rückert.


Mit dabei waren für das Rote Kreuz neben Thomas Weber (Integrationsagentur) und Judith Raß (Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit) auch Mounir Alfatwa und Markus Heinen (Projekt "Komm mit - Demokratie zum Anfassen"). Für das Kommunale Integrationszentrum des Kreises war Roland Kuhlen mit von der Partie. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen diesmal aus neun Ländern. Darum übersetzte man alles in Arabisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch und Französisch. Als Übersetzer agierten unter anderem Mounir Alfatwa und Farad Ali.

Mit nur 15 Jahren getötet

Ein besonderes Erlebnis war es, als aus dem Haus der deportierten Familie Mainzer eine interessierte Bewohnerin kam, die sich über deren Geschichte informieren wollte: "Hier haben wir eine direkte Rückkopplung erlebt", so Weber, "denn nun konnten die Zugewanderten ihr neu gewonnenes Wissen direkt weitergeben." Gemeinsam mit der Gruppe besuchte sie spontan weitere Steine und zollte auch diesen Opfern des Nazi-Regimes ihren Respekt.


Doch auch andere (Leidens-)Geschichten hinter den kleinen Denkmälern machten betroffen. Arthur Rückert beispielsweise war Buchhalter und wurde nur 46 Jahre alt. Getötet wurde er in der "Landes-Pflegeanstalt Brandenburg" im Jahre 1940. Und das nur, weil er ein "Zeuge Jehovas" war und statt Adolf Hitler nur Gott als höchste Autorität akzeptierte. Seine Ehefrau Ottilie starb ohne ihren Mann, verarmt und erkrankt mit 44 Jahren, schon 1939 an einer Lungentuberkulose.
Ein anderer Fall war ein Kind, das der Euthanasie zum Opfer fiel. Anton Liebertz war gerade einmal 15 Jahre alt, als er in der Heilanstalt Niedernhart/Linz ermordet wurde. Seine geistige Behinderung reichte den Nazis aus, um sein Leben als "nicht wertvoll" abzustempeln und grausam zu beenden.

"Ich werde für sie beten!"

Die Teilnehmer stellten viele Nachfragen und es zeigte sich ein großes Interesse und Betroffenheit. Eine Teilnehmerin wusste beispielsweise zuvor nicht, warum diese besonderen Steine in den Boden eingelassen wurden. Das habe sich nun geändert. Sie erklärte: "Wenn ich ab sofort Stolpersteine sehe, werde ich für diese armen Menschen beten!"
Roland Kuhlen wies zusätzlich auf die App "Stolpersteine" des WDR hin, die die Geschichten vieler Opfer erzählt und Bilder ihrer Geschichte zeigt.
Schließlich fand man sich wieder im "Café Henry" des DRK ein, genoss gemeinsam Linsensuppe und tauschte sich über die neu gewonnenen Eindrücke aus. Die Teilnehmenden bedankten sich für die wichtigen Infos, das Orga-Team hingegen dankte für das große Interesse. Man war zufrieden mit dem Tagwerk. Oder wie Judith Raß es ausdrückte: "Beim Putzen haben wir nicht nur die Steine, sondern auch die Erinnerung wieder zum Leuchten gebracht."


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