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»Sogar Goldfische sind aufmerksamer«

WhatsApp und andere Chat-Apps haben Jugendliche komplett im Griff. Die User fühlen sich genervt und können trotzdem nicht darauf verzichten. Sie befinden sich in einem suchtähnlichen Zustand, aus dem die meisten nicht mehr ohne Hilfe herauskommen. Eine der Folgen ist ein alarmierendes Aufmerksamkeitsdefizit.
Virtuelle Freunde sind am Smartphone ständig präsent. Ob es passt oder nicht. Das stresst. FOTO: S. SCHÖNHOFEN

Virtuelle Freunde sind am Smartphone ständig präsent. Ob es passt oder nicht. Das stresst. FOTO: S. SCHÖNHOFEN

Das Smartphone ist inzwischen Zentrum und Ausgangspunkt für Kommunikation, Information und Unterhaltung. Mit 97 Prozent hat praktisch jeder Zwölf- bis 19-Jährige ein eigenes Mobiltelefon, bei 95 Prozent handelt es sich um ein Smartphone. Der Umgang kann belastend sein. Das zeigt die JIM-Studie, die im November vorgestellt wurde. Das Smartphone wird demnach im Alltag häufig als Stressauslöser wahrgenommen. 70 Prozent der Jugendlichen haben selbst das Gefühl, dass sie manchmal zu viel Zeit mit dem Handy verbringen. Nicht nur das riesige Angebot unterschiedlichster Nutzungsmöglichkeiten, auch die ständige Präsenz des Freundeskreises hat Folgen, die nicht nur angenehm sind. "Ich bekomme manchmal so viele Nachrichten aufs Handy, dass es mich total nervt" - das haben 55 Prozent der befragten Zwölf- bis 19-Jährigen angekreuzt, also jeder Zweite. "Wenn ich höre, dass eine Nachricht reinkommt, springe ich auf und sehe nach", erzählt der zwölfjährige Finn, der ein Wittlicher Gymnasium besucht. "Das ist wie eine Krankheit", findet er. 40 Nachrichten von Freunden gehen am Tag auf seinem Smartphone ein, schätzt der Sechstklässler. Davon seien nur zehn wichtig. Bei seinem Mitschüler Luis sind es sogar 80 und mehr Nachrichten. "Es kommt ganz schön viel Schrott an", das nerve ihn. Ein Beispiel für einen typischen WhatsApp-Wortwechsel nach der Schule: "Hi" - "Hi" - "Wmis" (übersetzt: Was macht ihr so?) - "Busfahren" - "Ich auch" - "Ich auch" - "Hätt ich jetzt nicht erwartet" - ":-)". Oder die Unterhaltung ist noch karger: "Wg" (Wie geht es?) - "Gd" (Gut, und Dir?) - "Ag" (Auch gut). Frage aber jemand nach den Hausaufgaben, herrsche Funkstille, merkt Luis an. "Bei wichtigen Dingen antwortet keiner." Obwohl beide Jungen davon genervt sind, wollen sie nicht auf WhatsApp und Co verzichten. Und so geht es fast allen.

Süchtig nach Nachrichten

In der aktuellen Studie der Sinus-Akademie, die jugendliche Lebenswelten untersucht, klagen Jugendliche über den digitalen Stress, verursacht durch bis zu 3000 WhatsApp-Nachrichten monatlich. Warum sie nicht darauf verzichten möchten, erklärt Gerald Lembke, Professor für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Hochschule Baden-Württemberg. Er spricht von Suchtverhalten. "Bewiesen ist, dass das Eintreffen von neuen Nachrichten das limbische System im Gehirn antriggert. Dieses schüttet Belohnungsstoffe bei jeder neuen Nachricht aus. Der Prozess ist identisch mit der Entstehung von Suchtverhalten", erläutert der Professor. Gerald Lembke kommt nach Veröffentlichung der JIM-Studie zu dem Schluss, dass die Gefahr, die von digitalen Mobilgeräten ausgeht, weit unterschätzt wird. Die größte Bedrohung sieht er neben dem Suchtpotenzial in dem Verlust der Fähigkeit zur Konzentration. Der Wissenschaftler bezieht sich auf eine neue Microsoft Studie, die zeige, dass die Aufmerksamkeitsspanne beim Menschen von zwölf Sekunden im Jahr 2000 auf acht Sekunden im Jahr 2013 gesunken ist. "Damit ist die Aufmerksamkeitsspanne von Goldfischen sogar noch um eine Sekunde höher als bei Menschen", zieht Lembke einen vernichtenden Vergleich. Schuld für dieses Aufmerksamkeitsdefizit ist seiner Ansicht nach die exzessive Nutzung der Kommunikations-Apps. Der Alltag werde durch das dauernde Lesen, Schreiben und Beantworten von Kurznachrichten in "Kommunikationshäppchen" zerteilt. Die kurze Aufmerksamkeitsspanne, in der sie sich noch einem Sachverhalt widmeten, lasse die Fähigkeit verkümmern, über einen längeren Zeitraum reale vielschichtige Probleme zu lösen. bil

Extra: Die JIM-Studie

Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) erhebt seit 1998 mit der repräsentativen Studienreihe "JIM" (Jugend, Information, (Multi-) Media) Grundlagendaten zur Mediennutzung Jugendlicher in Deutschland. Die JIM-Studie wird vom mpfs gemeinsam mit dem Südwestrundfunk (SWR) durchgeführt. Für die aktuelle Ausgabe der Studienreihe, im November veröffentlicht, wurden 1.200 Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren in ganz Deutschland befragt.

Verbot, Entzug, Elterngespräch

So haben Schulen die Handynutzung geregelt

Noch herrscht in der Regel an Schulen Handyverbot. Doch die Schulen beginnen umzudenken. Stichproben in der Region belegen das.  Die IGS Salmtal erlaubt zwar, das Handy mit in die Schule zu nehmen, aber es muss ausgeschaltet bleiben. Wer es dennoch benutzt, muss es bis zum Ende des Schultags abgeben. Bleibt das Handy trotz Verbot an, gibt es eine Ermahnung, beim zweiten Mal werden die Eltern benachrichtigt, beim dritten Mal werden diese zum Gespräch eingeladen. Nicht alle Schüler hielten sich an das Verbot und klickten sich in den schwer zu überwachenden Pausen durch ihre sozialen Netzwerke, stellt Schulleiter Peter Riedel fest. Auch als Unterrichtsmaterial ist das Handy an der IGS Salmtal nicht zugelassen. Für die Internetznutzung seien andere Möglichkeiten wie Tablets, Notebooks und intelligente Tafeln vorhanden. "Wir beschäftigen uns aber schon damit, wie das in fünf Jahren sein wird", deutet Schulleiter Peter Riedel ein mögliches Umdenken an. An der Otto Hahn Realschule Plus in Bitburg herrscht ebenfalls Handy-Verbot. Ausnahmen sind Fachlehrern überlassen, die das Internet im Unterricht einsetzen wollen und das Verbot kurzzeitig aufheben. Ist das Handy allerdings ohne ausdrückliche Genehmigung angeschaltet, wird es bis 13 Uhr einkassiert, berichtet Schulleiter Torben Wendland. So sieht es auch am Regino Gymnasium in Prüm aus. Allerdings strebt Schulleiter Albrecht Petri in Abstimmung mit dem Kollegium und den Eltern eine Änderung des strikten Verbots in der Hausordnung an. Die Hausordnung sei in diesem Punkt veraltet. "Das Problem ist, dass Handys inzwischen mobile Kleincomputer sind", begründet er sein Bestreben, die Regel weiter zu differenzieren. Als Kleincomputer biete das Handy positive Möglichkeiten zum Beispiel als Vokabeltrainer. Im Unterricht werden am Regino-Gymnasium Smartphones bereits als Medium eingesetzt, beispielsweise dürfen Schüler Begriffe nachschlagen. Auch bei der privaten Nutzung drückt Petri in den Pausen oder Freistunden ein Auge zu, "so lange kein Unfug damit gemacht wird", fügt er einschränkend hinzu. Hier müsse auch zwischen Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe unterschieden werden. bil


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